Gar nicht selten ist der Typus schauspielerisch begabter Sänger, deren Interpretationen jegliche Faszination verlieren, sobald sie der szenischen Dimension beraubt sind, das heißt, sobald sie auf die bloß akustische Vermittlung durch die Schallplatte oder den Rundfunk angewiesen sind. Tito Gobbi zählt zu den raren schauspielerisch begabten Sängern, deren dramatisches Gestaltungsvermögen sich über die Szene hinaus auch auf die Musik erstreckt und für deren Interpretationen die Schall- platte darum keine künstlerische Amputation bedeutet.
Vor allem in der Frühzeit seiner sängerischen Laufbahn besaß er jene schwerlich zu definierende Strahlkraft, die so manchen großen italienischen Sänger, insbesondere aber Tenöre, auszeichnet. Tatsächlich wurde er, der 1915 geboren worden war und 1931 mit Jurastudien in Padua begonnen hatte, von einem Tenor ausgebildet. von Giulio Crimí, der bis zu seinem Rücktritt 1924 Mitglied der New Yorker Metropolitan Opera gewesen war. Über die Datierung dieser und der folgenden Stationen auf Gobbis künstlerischem Weg sind sich die Chronisten uneins. Fest steht, dass die Ausbildung bei Crimi fünf Jahre währte. Wahrscheinlich 1938 gewann Gobbi den ersten Preis bei dem internationalen Singwettbewerb in Wien, und danach studierte er ein Jahr lang mit einem Stipendium an der Schule für Gesang und Drama an der Mailänder Scala. Wahrscheinlich 1939 debütierte er in Rom am Teatro Adriano mit der Partie des Georg Germon in „La Traviata“.
Was seine Faszination ausmachte, als er sich während des Krieges die Opernhäuser Italiens, danach die Opernhäuser und Festspielbühnen in aller Welt eroberte, das sind allerorten geschätzte, aber seltene Tugenden. Jener mühelose Tonansatz und die so leichte wie präzise lntonation, die auf sicher beherrschtem Atem, auf einer guten Stützung der Stimme beruhen. Das ist das klug eingesetzte, gefühlvolle Vibrato, das je nach der dramatischen Ausdruckslage abgewandelt wird und nichts zu tun hat mit dem sentimentalen Tremolo, das so oft für ‚typisch italienisch‘ gehalten wird. Die beherrschte Dynamik, die Modulationsfähigkeit der Stimme, das geschmeidige Legato, die ausdrucksvolle Linienbildung, das gut gestützte Piano von hoher Intensität und schließlich, vielleicht am überraschendsten und am kostbarsten, der metallische Glanz, der dem Forte fast tenorales Gepräge gibt. Es lässt sich wunderbar an der Cavatina des Figaros aus Rossinis „Barbier von Sevilla“ studieren, aber ebenso gut an der Partie des Rodrigo aus Verdis „Don Carlos“.
Beim Vergleich dieser letzteren Aufnahmen (1942) mit jenen des großen Mattia Battistini aus dem Jahre 1913 wird hörbar, dass und wie Tito Gobbi mit diesem seinem gesanglichen und dramatischen Stil eine große Tradition bis in die jüngste Zeit hinein gewahrt und fortgesetzt hat. Die Tradition des italienischen Belcanto, soweit sie nicht allein die technische Schulung und den bloßen Schöngesang meint, sondern das Bestreben einschließt, dramatische Wirkung zu allererst musikalisch, das heißt mit sängerischen Mitteln zu erzielen, nicht aber vorwiegend in der körperlichen Darstellung oder aber durch Übertreibung, durch Überschreiten der Grenzen zwischen Gesang und Schrei, zwischen Rezitativ und Sprechen. Das ist es auch was Gobbi meint, wenn er jungen Sängern sagt: „Die Stimme kommt zwar aus der Kehle, doch drückt sie die Gefühle des menschlichen Herzens aus.“ Vor der Detailverliebtheit und vor jeglicher Übertreibung wird Gobbi durch die musikalische Intelligenz bewahrt, die ihm den Einblick in größere dramatische Zusammenhänge erlaubt, ihn eine Rolle als Komponente in einem dramatischen Kräftespiel zu verstehen lehrt, die gefühlsmäßige Identifikation mit einer Rolle kontrollieren und deren ganzen Facettenreichtum erschließen hilft.
Diese Haltung, diese gleichwohl reflektierte künstlerische Identifikation mit der Rolle hat es ihm nicht zuletzt ermöglicht, sich praktisch das gesamte Bariton-Repertoire zu erarbeiten und für eine große Zahl jener Partien, derer er sich annahm, neue Maßstäbe zu setzen. Er begann mit den kleineren Partien der romantischen und veristischen italienischen Oper von Bellini bis Verdi, von Mascagni bis Puccini. Sein komödiantisches Talent prädestinierte ihn zunächst jedoch für die Buffa, und tatsächlich wurde Rossinis Figaro die erste seiner ganz berühmten Partien. Dass er sich mit der Spezialisierung auf einige Paraderollen nicht zufrieden geben würde, nicht auch mit der bloßen Konzernierung der Belcanto – Tradition, das wurde schon von Anbeginn seiner Karriere deutlich. 1942 verzeichnete er einen seiner bedeutendsten künstlerischen Erfolge, als er in der italienischen Erstaufführung von Bergs „Wozzeck“ unter Tullio Serafin die Titelrolle sang.
Die Spannweite seines künstlerischen Temperaments zeigte sich, als er nach und nach in die großen dramatischen Baritonpartien hineinwuchs, in die des hochfahrenden und zugleich berechnenden Enrico („Lucia di Lammermoor“) ebenso wie in die des verzweifelt leidenschaftlichen René („Maskenball“) und des edlen Rodrigo („Don Carlos“), in die zwischen Demütigung und Rachegefühlen. Zwischen Liebe und Hass sich bewegende des RigoIetto, in die des unglücklichen Tonio („Bajazzo“) ebenso wie in die des düsteren Jochanaan („SaIome“). Noch ausdrücklichere Bestätigung fand seine sängerische und schauspielerische Begabung in den dämonischen zwielichtigen Charakteren des Don Giovanni, des Jago und des Scarpia in Mozarts gleichnamiger Oper, in Verdis „Othello“ und Puccinis „Tosca“. Drei Partien mit denen er, wo immer er auch damit auftrat, Publikum und Kritik begeisterte, weil er diese Gestalten psychologisch glaubwürdig nachgestaltete, noch mehr aber, weil der schauspielerischen Differenzierung eine ebenso vielschichtige musikalische Konzeption zur Seite trat.
Gobbis Kunst entfaltet sich zu ihrer ganzen Größe, wenn er Verdis „Simone Boccanegra“ singt, nach eigenen Aussagen seine liebste Partie, eine Charakterstudie mit reicher Ausdrucksskala zwischen persönlichen und politischen Konflikten, zwischen privater und öffentlicher Moral. Diese Kunst der klug gestalteten und dennoch ursprünglich wirkenden musikalischen Dramatik, die in dieser Partie des Simone. Der englische Kritiker Desmond Shawe-Taylor nannte die Gesamtaufnahme mit Gobbi eines der größten Schallplattendokumente der Gegenwart ~ ihren Gipfel erklommen hat, verbindet sich schließlich wieder mit dem komödiantischen Temperament, das Tito Gobbi schon von früh an bewiesen hat. Er erfasst die bedeutendste aller komischen Baritonrollen, den hintergründigen Charakter des Falstaff, diese Mischung aus Edelmann und Schurke, aus kaltem Zynismus und feiger Lüsternheit in allen zwischen Komik und Tragik schillernden Farben. Er macht hörbar, welcher Reichtum an Nuancen, wie viele musikalische Charakterisierungen der von vielen Sängern als trocken empfundene melismatische Stil des alten Verdi verbirgt.
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